Sonntag, 20.05.2012: Saint-Ursanne (schweiz. Jura) - Bellevaux (Hochsavoyen), ca. 370Km

Morgääähn. Die Männer hätten gerne um 8h00 gefrühstückt - oh, wie zeitig (gemessen an der Frühstückszeit mit den Mädels, die selten früher als 8h30 war), aber ok, wir wollten ja heute schließlich weitere Kilometer packen. Allerdings schaute die Hotelbesitzerin etwas irritiert, als wir am Vorabend diesen Wunsch geäußert hatten. In ihrem Hause wäre erst ab 9h00 Frühstück möglich. Wir einigten uns schließlich auf 8h30. Geht doch.

Der Blick aus dem Dachfenster fiel auf von Nebel umwaberte Wälder und Berge. D.h. eigentlich sah man wegen des Nebels von letzteren recht wenig. Na, der Tag würde doch wohl nicht so schlecht werden, wie uns alle, Wettervorhersagen inklusive, prophezeit hatten?

Ich war so früh auf den Beinen, dass ich mich bereits vor Acht schon wieder im Kreuzgang befand. Ein leises Klicken verriet mir, dass ich nicht alleine war. Michael war schon bei der fotografischen Arbeit, hielt - wie sich später bestätigte - sehr schöne Impressionen aus dem Kreuzgang fest. Und weil wir noch Zeit hatten, setzten wir die Betrachtungsrunde in der bereits geöffneten Kirche inklusive Krypta fort.

Für mich wieder einmal ein besonderer Moment der Stille mit seiner eigenen dichten Atmosphäre, die ich empfand und auf mich wirken ließ (nein, ich würde mich nicht als ausgesprochen religiös bezeichnen).

Frühstück dann um ... 9h00! Weil es Lieferschwierigkeiten gab. Keine geöffnete Bäckerei im Ort - es war Sonntag, hier ruhte man am siebten Tag durchaus - und der Backwarenlieferant blieb wo auch immer und brachte die Bedienung fast zum Verzweifeln. Wir wussten die Prioritäten zu setzen und bestellten immerhin mal einen Milchkaffee.

Wenig später ein erleichtertes Strahlen im Gesicht der Angestellten - und, ehrlich gesagt, Erleichterung auch bei uns: Baguette und Croissants wurden endlich geliefert und die etwas verschämt angebotene Einzelportion (Notration) von Kellogs Smacks im Kartönchen durfte auf ihren nächsten Verzehr warten.

Nach dem Frühstück machten wir uns auf den Weg. Die Strecke sollte weiter durchs Schweizer Jura über Le Chasseral, mit 1.607m die höchste Erhebung der Region, dann in Richtung Genfer See führen. Als Tagesendziel war eine Übernachtung im Savoyen angedacht.

Wir überquerten den Doubs noch bei Saint-Ursanne und schwangen uns über die Route Cantonale in die Höhe. Was für ein Bild - der Nebel waberte im Tal und wir standen sozusagen über den Dingen im Sonnenschein. Das war allemal den ersten Fotostopp des Tages wert. Über kleine Straßen ging es weiter bergauf und bergab und bald folgte, oh welche Überraschung, die erste Schotterpassage dieser Tour.

In einem Dorf - hieß das nicht sogar "Les Enfers" (dt.: die Höllen)??? - stoppte Michael kurz vor einem Haus, und während die geteerte Straße rechts am Haus vorbei führte, wählte er die ungeteerte Passage links ... und verschwand in einem bergab führenden Rechtsbogen aus dem Blickfeld.

War das sein Ernst? Wollte er mich nur testen, ob ich folgen würde? Wollte er nur schauen, wohin der Weg führen würde? Würde er zurückgefahren kommen? Ein fragender Blick zu Rainer. Ein Schulterzucken als Antwort zurück zu mir. Na gut, blieb mir ja nix anderes übrig. Also hinterher.

Und ... ich musste schmunzeln. Der Weg stieß hinter dem Haus wieder auf die geteerte Straße (richtig, die, die rechts am Haus vorbeiführte), wenngleich der Übergang von Weg auf Straße ordentlich matschig war und dem Linksabbiegen auf den befestigten Untergrund einen kleinen Kick verlieh.

Aber man höre und staune: Es sollte tatsächlich das einzige Schotterstück in der gesamten Woche bleiben! Wobei Michael betonte, dass dies nun keine bewusste Rücksichtnahme mir gegenüber war (nicht, dass ich diesbezüglich eine Memme wäre, ich fahre fast überall hinterher, so lange ich das Gefühl habe "nichts ist unmöglich").

     

Weitere Eindrücke, wie Michael seine Touren plante, folgten: über im Boden eingelassene Kuhgatter ging´s weiter, mitten zwischen Kuhweiden hindurch, auf wenn auch schmalen, aber geteerten Straßen, wohlgemerkt, als plötzlich links von uns auf der Weide zwei junge Hengste ausbrachen und neben uns her galoppierten.

Was für ein glücklicher Zufall, dass Michael seine Helmkamera eingeschaltet hatte! Ein bewegender Anblick. Mir fiel augenblicklich eine Szene im Film "Die wunderbare Welt der Amélie" ein, wo ebenfalls ein Pferd neben einem Radrennen her galoppiert. Die Filmmusik dieser Szene ging mir den ganzen Tag nicht mehr aus dem Kopf.

Auf leicht verschmutzten Straßen ging es durch den Wald und an einem kleinen hübschen Wasserfall vorbei wieder hinab ins Tal, wo wir im Grenzort Goumois herauskamen und am Ufer des Doubs den nächsten Fotostopp einlegten. Hier hätte eigentlich unser Übernachtungsziel am Vortag liegen sollen, aber zeitlich wäre es dann sehr spät geworden.

Passte schon so wie es war, sonst hätten wir die galoppierenden Pferde nie vor die Linse bekommen. So genossen wir die spätmorgendliche Idylle am Doubsufer, bevor wir uns über Saint-Imier auf zum nächsten Highlight des Tages machten (das weiß ich heute ... da ich keinerlei Routenplanung betrieben hatte, sagten mir die Namen, die Michael vorher einwarf, reichlich wenig).

Also auf zum Chasseral, mit 1.607m die höchste Erhebung im schweizerischen Berner Jura. Der Weg nach oben führte über eine schmale Straße. Wie schmal, bekamen wir prompt mit, als sich zwei Autos begegneten. Zugegeben, hätten die beiden Fahrer sich nicht so blöd angestellt, hätten sie problemlos aneinander vorbei gepasst.

Aber Starrsinn des einen und ungeschicktes Rückwärtsmanöver des anderen führten erst einmal zu einem kleinen Geduldsspiel für alle Parteien, uns inklusive, die wir geduldig hinter dem einen - gottseidank vorwärts fahrenden - Auto ausharrten.

Endlich vorbei, ging´s weiter den Berg hinauf, zunächst bis zum Pass Col de Chasseral (1.502m), von wo aus man plötzlich eine grandiose Fernsicht über den Bieler See sowie den Lac de Neuchâtel und die dahinter liegende Alpenkette hatte. Bei klarem Wetter wäre sogar der Mont Blanc sichtbar. Uns blieb dieses Tüpfelchen auf dem i leider verwehrt, aber es war auch so ein beeindruckender Anblick. Ich musste erst einmal anhalten, um dieses Bild zu inhalieren, wirken zu lassen.

Wooooow! Ich fühlte mich plötzlich vom Alltag, von allem ganz weit weg. Urlaub. Endlich Urlaub! Endlich unterwegs! Die restlichen Meter bis zum Gipfel legte ich in gemütlichem Tempo zurück, immer wieder den Blick zu den Berggipfeln werfend. Einfach grandios, diese Natur.

Auf dem Gipfel nahmen wir uns viel Zeit für Gucken, Fotografieren, Einatmen, Seele baumeln lassen. Jeder fand sein Ding, sein Fotomotiv, seine Ruhe, ließ die Gedanken mit den zahlreichen Paraglidern fliegen. Herrlich entspannt. Nein, ich hatte wirklich keine Bedenken, dass die Interessen in diesem Urlaub arg auseinander gehen würden.

Irgendwann war vorbei mit Trödeln und wir machten uns weiter auf den Weg in Richtung Genf, der uns durch das Val d´Areuse führte. Hinter Brot- Dessous (O-Ton Rainer im Gespräch über Hunger: "Essbare Unterwäsche") legten wir eine kurze Kaffeepause ein. Ich war ein wenig erstaunt, dass die beiden Männer wieder nur Milchkaffee und Wasser bestellten, während sich bei mir schon wieder leichter Hunger breit machte. Ach ja, das mit dem Zehren ...

Die Temperaturen wurden richtig sommerlich und wir fragten uns, wo, bitte schön, denn das schlechte Wetter sei, das sämtliche Wettervorhersagen prophezeit hatten??? Immerhin: so hatte ich meine Sonnencrème nicht umsonst eingepackt!

Die Route führte weiter durch das Val d´Areuse, dann durch das Val de Travers, durch La-Cluse-et-Mijoux und an seiner beeindruckenden Festung Châteaux de Joux vorbei. Zügig ging es in Richtung Saint-Claude. Zügig, weil ein französischer Motorradspacke glaubte, ein wenig von seinem geschwindigkeitsorientierten Fahrkönnen demonstrieren zu müssen.

     

Nun, er hatte die Rechnung wohl ohne Michael gemacht, der sich locker-flockig an ihm festbiss. Auf der Strecke blieb dagegen der Freund des Motorradfahrers. Als wir an einem Abzweig ins Tal vom Zusammenfluss der Flüsse Tacon und Bienne abbogen, in dessen Talkessel Saint-Claude liegt, war jener im Rückspiegel längst nicht mehr zu sehen. Erst als wir auf der Abfahrt wegen einsetzendem Regen hielten, damit ich meine Regenklamotten anziehen konnte, schwirrten die beiden an uns vorbei.

Ein weiterer kurzer Stopp erfolgte in Lajoux, kurz hinter Saint-Claude, auf dem Weg zum Col de la Faucille (1.323m) am "l´incontournable vélo géant". Das riesige Fahrrad aus Holz am Straßenrand der D436 ist nicht zu übersehen und ein Muss für einen Fotostopp. Ich war zudem mutig und entledigte mich wieder meiner Regenklamotten. Hier auf der anderen Seite des Talkessels war der Himmel plötzlich wieder blau, nur mit weißen Wolken bestückt.

Wir überquerten endgültig die Jura-Gebirgskette und rollten hinab nach Genf, wo wir es dann richtig mit Hitze zu tun hatten, was auch daran lag, dass wir uns um die Südspitze des Sees herumSTANDEN. Stau ohne Ende, was bei gnadenlosem Sonnenschein und laufendem Motor in Motorradklamotten nicht wirklich ein Genuss war. Michael wollte uns Genf zeigen - bitteschön, wir hatten ausreichend Zeit zur Betrachtung.

Meckern und mucken tat schließlich ... Rainers Bandit! An einer Tankstelle, noch in Genf, wollte sie nach dem Tanken nicht mehr anspringen. Tja, es sollte keine einmalige Sache sein und entwickelte sich schließlich zu einem Running Gag (oder eben ´nicht-running´), der sich wie ein roter Faden durch die nächsten Tage zog. Immer wieder zierte sich die Diva, was Michael hin und wieder zu sportlichem Einsatz auf zwei Füßen kommen ließ. Okay, um als Anschieber im Bobsport erfolgreich zu sein, wäre wohl noch etwas mehr Training nötig gewesen.

Alles Nachschauen und Ausprobieren half nix, Michael schob Rainer laufenden Schrittes an und Rainer bzw. seine Bandit kam wieder ins Rollen. Nix wie weg, damit der Fahrtwind ein wenig Kühlung bringen konnte. Wir fuhren noch ein Stück am Ostufer des Genfer Sees entlang und bogen dann gen Südost in Richtung Berge ab. Ohne es zu merken überquerten wir die schweiz-französische Grenze und befanden uns im Hochsavoyen.

Da der Nachmittag schon ein wenig fortgeschritten war, befassten wir uns gedanklich mal mit der Zimmersuche. Dass die sich aber noch zu einer halben Odyssee entwickeln sollte, wussten wir da gottseidank noch nicht. Auf der ganzen Strecke - die Gegend Montagne d´Hirmontaz ist ein Wintersportgebiet - waren zwar zahlreiche Ferienwohnungen, aber kein Hotel zu sehen. D.h. wenn wir eins sahen, war es geschlossen. Hors Saison. Na klar, es lag ja auch kein Schnee mehr.

Das Nachfolgen von Hotel-Werbehinweisschildern entwickelte sich zu einer Nervenangelegenheit. Erst schlecht ausgeschildert ... und dann doch geschlossen. Mehr zufällig entdeckte ich auf der Durchfahrt in Bellevaux, einem Bergdorf im Vallée du Brevon, in einer Parallelstraße zur Hauptstraße das Hotel "La Cascade", das nicht wie ausgestorben aussah. Es brannte Licht.

Also Zeichen gegeben, abgebogen, geparkt und reingestiefelt: "Bonsoir, nous cherchons trois chambres." "3 chambres pour 2 personnes?" "Non, 3 chambres pour 1 personne." "Oh." Hä? Was sollte nun daran ein Problem sein, ob wir ein Doppelzimmer nur mit einer Person belegten???

Die Dame von der Rezeption ließ mich im wahrsten Sinne des Wortes stehen. Ich sollte warten. Sie ging wohl in der Zwischenzeit die Zimmer zurecht machen. Wenige Minuten später kam sie wieder herunter "C´est bon." Na, gottseidank, ich wäre auch nicht mehr weitergefahren!

Dem üblichen Ausknobeln "Wer nimmt welches Zimmer?" - heute nahm ich kurzerhand das, zu dem die wenigsten Treppenstufen führten - folgte das Gepäckschleppen und Frischmachen. Da es schon spät war und die Küche nicht mehr lang geöffnet hatte, war letzteres eine kurze Angelegenheit, Relaxen musste auf später verschoben werden.

     

Bald darauf saßen wir wieder zusammen und studierten die Speisekarte, die ausreichend regionale Gerichte und freundlicherweise auch ein "Menu terroir" anbot. Das sollte mehr oder weniger das Standard-Menu der nächsten Tage werden und wir trafen damit nie eine schlechte Wahl. Land, Leute, Kultur und Küche kennenlernen - das ist Reisen!

Den Digestif zum Abschluss des Tages nahmen wir ein Stockwerk höher im "Salon" ein - naja, zusammengewürfeltes Wohn- und Spielezimmer traf es wohl besser. Rainer und ich blieben dem Motto "Regionale Spezialitäten" treu, wählten einen Kräuterlikör namens La Chartreuse Verte, der von Kartäusermönchen der Grossen Kartause (= Chartreuse) bei Grenoble hergestellt wird.

Michaels Gesichtsausdruck beim Nippen zeigte, dass dieser aus bis zu 130 Kräutern hergestellte, 55%ige Alkohol nicht unbedingt jedermanns Geschmack ist.

Unter witzelnden Bemerkungen über Geschmacksverirrungen ließen wir den Tag nochmal Revue passieren, rätselten noch ein wenig über Rainers muckende Bandit und verschwanden irgendwann müde, aber zufrieden (ich schließe jetzt einfach mal von mir auf die anderen) in den Betten.