Aus eigenem Antrieb - auf dem Weserradweg unterwegs, Mai 2014

01.05.2014: Es geht - pardon: fährt(!) - tatsächlich - von Hann. Münden nach Oberweser, OT Oedelsheim, ca. 27km


Morgenstund hat vielleicht Gold im Mund, aber sicher keine Kraft in meinen Beinen. Zu der für mich recht unchristlichen Zeit von 5h45 klingelt der Wecker, und um 7h15 schwinge ich mich auf meinen vollbepackten Drahtesel, dem ich aufgrund der farblichem Dominanz schnell den Namen "Grashüpfer" verleihe.

Ich möchte gleich einen schönen Einstand geben und nicht zur nächstgelegenen, sondern darauffolgenden S-Bahn-Station fahren. Der Weg dorthin führt über eine verkehrsberuhigte Straße. Ein erster Test, wie sich so ein voll beladenes Fahrrad lenken lässt. Was hat mich eigentlich geritten, als ich "Zelten" vorgeschlagen habe???

Nach wenigen Metern halte ich wieder an und korrigiere die Beladung. Die 1-Liter-Wasserflasche in der Lenkertasche versetzt die ganze Fuhre dermaßen ins Schlingern, dass ich schon befürchte, noch nicht einmal zum Bahnhof zu gelangen. Also Flasche nach hinten, Gabelfedern blockiert ... und schon bleibe ich deutlich besser in der Spur.

Die zwei Kilometer zur S-Bahn lassen sich so gut fahren, und bald stehe ich, schon mit leisem Stolz und Optimismus erfüllt, mit Sack und Pack in der S-Bahn. Am Hauptbahnhof kämpfe ich mich zunächst durch die Menschenmassen und dann mit dem Aufzug. Ein Miniaturexemplar, in das vielleicht gerade mal 4 Personen reinpassen. Ohne Fahrrad. Nix für Klaustrophobiker!

Auf dem IC-Abfahrtsbahnsteig endlich angekommen, sehe ich zahlreiche Radfahrer und Fahrräder, aber keine Kerstin. Mangels Erfahrung kommen leise Zweifel auf, ob denn im Zug wirklich Platz für uns alle ist!? Kerstin, Hilfe! Sie kommt wenig später mit dem Aufzug herabgeschwebt und auch alle weiteren Sorgen lösen sich in Luft auf, als der Zug einfährt.

Der hat a) ausreichend Aufenthalt, dass alle ihre Fahrräder in den Fahrradwagon reinhieven können und b) ausreichend Stellplätze, dass auch jeder sein Fahrrad unterbringt. Hat halt schon seinen Grund, dass man nur mit Fahrradreservierung mitkommt.

Himmel und Menschen, mit und ohne Fahrräder, sind an diesem Tag unterwegs. Wir finden gottseidank auch ohne Sitzplatzreservierung problemlos Sitzplätze und sitzen bald quasselnd und voller Vorfreude im Zug.

Letztere wird ein wenig getrübt, als bei Hannover kräftige Regenschauer einsetzen. Etwas mitleidig nehmen wir die Motorradfahrer im strömenden Regen auf der A7 wahr, als der Zug diese quert. Äh, nein, tauschen möchten wir jetzt nicht!

In Hannover trennen sich Kerstins und meine Wege, das Problem der beim Ticketkauf aufgetretenen Fahrradreservierung wird nun Realität:

Kerstin bekam nur eine Fahrradreservierung bis Hannover anstelle bis Göttingen, während Iris, die in Hannover dazusteigen wollte, gar kein Ticket mehr für diesen Zug bekam. Somit verlässt mich Kerstin in Hannover, um von dort mit Iris per Bummelbahn nach Hannoversch Münden zu tingeln, während ich mit dem IC bis zum nächsten Halt in Göttingen weiterreise.

Hier kann ich auf die Hilfe (tat)kräftiger Männer bauen, die ebenfalls mit dem Rad den Weserradweg längs wollen, und mir beim Aussteigen und Ausladen behilflich sind. Frauenbonus und mein Glück, denn alleine hätte ich das kräftetechnisch wohl nicht geschafft. Auf dem Bahnsteig der Regionalbahn nach Hannoversch Münden tummeln sich noch mehr Radfahrer als in Hamburg und ich habe schon die Befürchtung, dass ich gar nicht in diesen Winzzug reinkomme.

Doch die Ängste sind unbegründet - jeder hilft jedem und irgendwie gelangt jedes Fahrrad in den kleinen Zug. Gemütlich ist zwar anders, aber dabei sein in diesem Falle alles!

In Hannoversch Münden angekommen habe ich dann erst einmal alle Zeit der Welt um auszusteigen, das Gepäck zu sortieren und die Gegend rund um den Bahnhof zu erkunden, bis gegen 13h00 dann auch Kerstin und Iris mit großem Gewinke und breitem Grinsen auf den Bahnsteig ausgespuckt werden.

                       

Jucheee, endlich vereint und wieder gemeinsam auf Tour! Wir stehen noch keine fünf Minuten zusammen und sind schon wieder laut am lachen, als Kerstin und Iris ihre amüsanten Aufzugerlebnisse aus Göttingen erzählen. Die Stimmung wird auch nicht durch einsetzenden Regen getrübt, der gottseidank nur von kurzer Dauer ist.

Dagegen dauert es etwas länger, bis wir Hannoversch Münden verlassen haben, da wir prompt erst einmal in die falsche Richtung radeln. War irgendwie nicht zu erkennen, dass wir uns plötzlich an der Werra anstelle der Weser befanden.

Naja, im Grunde genommen waren uns die geplanten 25km am ersten (Halb-)Tag nur zu wenig ... *scherz* Aber diese Meinung revidiere ich bald, als auf den ersten Kilometern hinter Hannoversch Münden in relativ kurzem Abstand zwei kräftige Steigungen kommen, die mir sehr schnell meine Grenzen und die nicht vorhandene Muskelkraft aufzeigen. Das geht ja schon gut los!

Und wenn das so weitergeht, wird das wohl nix mit den geplanten 140km. Wer sein Fahrrad liebt, der schiebt ... und ich habe meinen Grashüpfer lieb! Kerstin ihr Fahrrad ebenfalls, was mich ein wenig tröstet, während Iris bald nicht mehr zu sehen ist.

Vermutlich wird sie die Strecke doppelt und dreifach und mit Kringeln um uns herum fahren, damit ihr nicht langweilig wird.

Später verrät sie mir ihre Ambitionen: während es mein Ziel ist die Strecke durchzuhalten, will sie jeden Anstieg im Sitzen bewältigen. Und, so viel sei vorweggenommen: wir werden am Ende beide unsere Ziele erreichen!

Unser erstes - nicht geplantes - Zwischenziel erreichen wir nach ca. 12km. In Hemeln legen wir eine Pause am Gasthof "Zur Fähre" ein, direkt - wie der Name schon sagt - an der Fähre Hemeln-Reinhardshagen gelegen.

Trotz des relativ feuchten Wetters sind hier Himmel und Menschen zu Fuß, mit dem Fahrrad oder dem Motorrad unterwegs, ein kunterbuntes Publikum sitzt an den Tischen unter den großen Kastanienbäumen, die in dem Fall mehr Schutz vor Regentropfen als vor Sonnenstrahlen bieten.

Wir strahlen auch. Zufrieden und zuversichtlich. Die ersten Kilometer liefen doch schon ganz gut, da werden die restlichen 130km es auch tun! Wir genießen die Pause mit Warm- und Kaltgetränken, und dank einer nicht "rechnungsfähigen" Bedienung zahlen wir dafür einen unschlagbar niedrigen Preis.

Mit frischer Kraft treten wir nach einer entspannten Stunde wieder in die Pedale in Richtung Bursfelde. Zunächst führt der Radweg zwischen Wiesen und Obstbäumen entlang, bevor er in einem Rechtsknick steil den Berg hinauf führt.

Ich fühle mich, als ob ich gegen eine Wand fahre, und schiebe bzw. ziehe meinen Grashüpfer die gefühlten zig Meter den Hang hinauf. Hier wird mir das Gewicht - Fahrrad + Gepäck - zum ersten Mal bewusst. Schieben ist nicht weniger anstrengend als Fahren, denke ich. Iris ist derweil munter tretend oben angekommen und hält Kerstin und mich, wenig munter, fotografisch fest.

Trotzdem, das Gefühl von "geschafft" - im Sinne von: erreicht! - überwiegt die Atemnot. Zum Glück geht es gleich wieder leicht abwärts, doch von entspannt ist bei mir keine Rede, als aus asphaltierter Strecke plötzlich ein unbefestigter, leicht feuchter und dafür kurvenreicher Waldweg wird. Hui, hier geht die Post ab, was angesichts der schmalen Reifen und der eh noch in mir herrschenden Unsicherheit in punkto Fahrradfahren nicht nur Freudenschreie auslöst.

Trotzdem: es ist ein wunderschöner Streckenabschnitt, den wir wenige Kilometer später an der Mauer des Klosters Bursfelde unterbrechen. Die Ende des 11. Jh. gegründete ehemalige Benediktinerabtei ist uns aus dem Vorjahr bereits bekannt, so dass wir heute keine Zeit für eine Innenbesichtigung nehmen.

Meine Gedanken schweifen zurück an das schicksalsreiche Wochenende im Juni 2013 und an den langwierigen Weg, den ich seitdem zurückgelegt habe. Momente der Besinnung und auch der Dankbarkeit dafür, dass ich nun wieder hier stehe, wo ich gerade stehe.

                          

"Sobald Du vertraust, beginnst Du zu leben" - dieses im Informationskasten an der Klostermauer hängende Zitat von J. W. von Goethe kann ich nur bestätigen. Der Beginn liegt ganz nah, steckt in dir drin. Ohne Selbstvertrauen geht nämlich gar nichts.

Vom Kloster Bursfelde aus sind es noch etwa 8km bis zu unserem Tagesziel, dem Campingplatz in Oberweser, OT Oedelsheim. Zunächst radeln wir zwischen Feldern entlang, bevor wir uns dann parallel zum Wasser befinden und von weitem schon den Ortsteil Oedelsheim und, ganz am Ende, den Campingplatz sichten.

Gegen 16h35 ist die erste Etappe ist geschafft. Wow! Ich grinse stolz in mich rein, ganz zuversichtlich, dass ich auch das Ziel in Hameln erreichen werde.

Der Campingplatz "Campen am Fluss" ist ein wahres Kleinod an Campingplatz. Sauber und gepflegt - sicher, die Anzahl der Zelter ist hier definitiv in der Minderheit gegenüber den zahlreichen Dauercampern, die sich ihre Parzellen fast schon wie im Kleingarten eingerichtet haben - ein unglaublich netter Empfang, ein wunderschöner Platz direkt am Wasser für Kurzzeitzelter, ein Bistrobereich mit einer kleinen, aber feinen Karte, deren Gerichte uns am Abend die verlorene Energie wiedergeben.

Erst aber geht es giggelnd an den Zeltaufbau.

Kerstin hat sich ein neues Zelt zugelegt. Vielleicht ist ihr unser Gespött über ihre bisherige "2-Zimmer-Küche-Bad"-Größe auf die Nerven gegangen. Zumindest hat sie nun die Messlatte im Downsizing richtig hoch bzw. niedrig gelegt! Hatten wir Iris' Zelt schon als "Hundehütte" bezeichnet, so trifft auf die Größe bzw. Höhe von Kerstins Zelt am besten "Mauseloch" zu. Und da "kleines Zelt" nicht unbedingt auch gleich "schnell aufgebaut" bedeutet  - ok, es ist Kerstins erster Aufbau - muss sie sich noch ein paar spöttische Bemerkungen anhören.

Dass Iris' Zelt für Außenstehende nun auch nicht wirklich groß wirkt, zeigt sich wenig später, als Passanten hinter ihrem Zelt vorbeigehen und sich laut die Frage stellen, ob da wohl ein Mensch komplett reinpasst. Iris, die nach dem Zeltaufbau in ihrem Zelt liegt, die beschuhten Füße aber zum Ausgang rausgestreckt hat, antwortet laut "Nein, die Füße müssen draußen bleiben!" Die Lacher sind mal wieder auf ihrer Seite, herrlich!

Wenig später sitzen wir im Bistro und genießen unser erster "Zisch!" dieser Tour in Form eines schmackhaften Biers namens "Bergbräu Altstadt", einem herzhaft-würzigen dunklen Bier aus der kleinen Bergbräu-Brauerei im 8km entfernten Uslar. Lecker! Leider werden wir es auf keinem der weiteren Campingplätze wiederfinden.

Wir stoßen glücklich grinsend auf den ersten Tourtag an und lassen ihn bei einem deftigen Abendessen Revue passieren.

Unser Bewegungsdrang ist allerdings noch nicht gestillt. Vielleicht wollen wir aber auch nur den Allerwertesten entlasten, und so starten wir etwas später zu einem kleinen Spaziergang durch das etwas mehr als 1000 Einwohner große Oedelsheim.

Hier befinden sich beeindruckend viele alte und sehr gepflegte Fachwerkhäuser. Ein weiterer Blickfang ist die im klassizistischen Stil und aus Feldsteinen errichtete Martinskirche aus der ersten Hälfte des 19. Jh.

Wir beenden unsere Runde mit einem Bummel entlang der Weser und kehren in der zunehmenden Dämmerung auf den Campingplatz zurück. Ich spüre die Anstrengung der ungewohnten Bewegung nun deutlich. Um 21h30 ist Endegelände in den Zelten.

Ich stecke mir die Ohrstöpsel rein - der Lerneffekt vom letzten Zelten über nicht-schallisolierte Zeltwände - ist noch wirksam. Das "Gute Nacht" meiner Mitfahrerinnen bekomme ich schon nicht mehr mit; ich bin ratzfatz eingeschlafen.