Mal wieder reif für die Insel: Rügen im März 2014

Freitag, 07.03.2014: Meist rasend unterwegs, zielstrebig aufwärts, mühsam abwärts.


Nach einer schlafreichen und geräuscharmen Nacht wache ich am Morgen entspannt auf. Das Frühstück um 8h15 ist eine Überraschung: trotz minimaler Anzahl an Übernachtungsgästen - ich sehe noch zwei weitere Personen - ist ein reichhaltiges Buffet aufgebaut. Frisch aufgebackene, noch warme Brötchen, mehrere Sorten Müsli, frischer Obstsalat, Joghurt, diverse Wurst- und Käsesorten ... was begehrt man mehr?

Während ich langsam den Kaffee trinke und auf die Ostsee blicke, plane ich allmählich meinen Tag. Mit dem Rasenden Roland, einer dampfbetriebenen Schmalspurbahn mit historischen Dampflokomotiven und Wagen im regulären Linienbetrieb, soll´s zunächst bis zum Jagdschloss Granitz gehen - hier steht die Herausforderung des Tages an - anschließend weiter bis ins Ostseebad Göhren. Dann mal schauen.

Es ist noch reichlich Zeit bis zur Abfahrt der Dampflok, und so bummele ich noch ein wenig über die Strandpromenade und sammle Impressionen. Mit meinen Wanderstöcken - später werde ich heilfroh sein, sie mitgenommen zu haben - errege ich das Mitleid eines ca. 4-jährigen Knirps´, der mich fragt "Hast Du Aua gemacht?" Auf mein "Ja" reagiert er betroffen stumm.

Ein Blick auf die Uhr - huch, nun muss ich mich doch sputen, damit ich die Bahn noch erwische.

Wäre blöd sie zu verpassen, denn sie fährt in der Winterzeit nur alle zwei Stunden. Gerade noch rechtzeitig treffe ich am Kleinbahnhof Binz ein, als fauchend und pfeifend der Rasende Roland einfährt.

Was für ein Spektakel, die Lokführer haben ebenfalls ihre Freude daran und lassen kräftig Rauch in den Himmel steigen.

Das hat während der Fahrt allerdings auch zur Folge, dass man von der Waldlandschaft nicht allzu viel sieht. Vor den Fenstern schießt dichter weißer Rauch vorbei. Schade eigentlich, dass man den Geruch nicht auch auf den Speicherchip bannen und mit den dazugehörigen Fotos verknüpfen kann.

Die Nostalgie währt zunächst nur eine kurze Zeit - in sieben Minuten ist die Haltestelle "Jagdschloss" erreicht, von hier aus führt ein holprig gepflasterter Weg durch den Wald zum ehemaligen Sitz der Fürstenfamilie von Putbus.

Das Jagdschloss Granitz ist noch vom vorjährigen Besuch bekannt, doch heute hat es für mich eine besondere Bedeutung: ich will es wissen! Will wissen, wie mein körperlicher Zustand ist und will den Turm und seine 154 Stufen besteigen.

     

Quasi eine kleine Michel-Vorabbesteigung, der dreimal so viele Treppenstufen hat, und den ich auch noch auf meiner To-do-Liste stehen habe.

Zuerst aber muss ich mich den Herausforderungen im Wald stellen. Während mir das Gehen auf Asphalt und glatten Wegen nur noch wenig Mühe bereitet, ist schon der holprige Kopfsteinpflasterweg für mich eine kleine Herausforderung.

Als es dann auch noch steil bergauf zum 107m hohen Tempelberg geht, auf dem sich das Schloss befindet, schalte ich alle Gedanken an den Rückweg ab.

Oben angekommen hole ich erst einmal Luft, bevor ich die Treppen zum und ins Schloss steige. Dort stehe ich mit offenem Mund in der Eingangshalle. Nicht, weil ich nach Atem ringe, sondern weil spätestens hier deutlich wird, dass es sich um ein JAGDschloss handelt. Die Wände der Halle hängen voller Trophäen: Hirsch- und Eberköpfe, Hirsch- und Rehgeweihe. Halali!

Kurz darauf werde ich von einem Aufseher in einem generalsmäßigen Befehlston darauf hingewiesen, dass ich meine Stöcke im Schirmständer zu deponieren hätte.

"Jawohl, Herr General!" kapituliere ich innerlich nach vergeblichen, mehr oder weniger charmebehafteten Versuchen, die Notwendigkeit meiner Stöcke zu erklären. Die nette Dame an der Kasse bietet leise schmunzelnd - sie kennt wohl ihre Pappenheimer - an, die Stöcke bei sich aufzubewahren und nimmt so meine Ängste, sie könnten bei der Rückkehr verschwunden sein.

Mit nur 3,00 Euro bin ich dabei und starte einen schnellen Rundgang durch das kleine, aber schmucke Schloss, das von 1838-1846 im Auftrag des Fürsten Wilhelm Malte I. zu Putbus zu repräsentativen Zwecken errichtet wurde. Mein eigentliches Objekt der Begierde ist allerdings der berühmte Turm.

Der nachträglich eingefügte, 38m hohe Turm mit seiner wunderschönen gusseisernen wie filigranen Wendeltreppe, die sich schneckenhausartig in die Höhe schraubt, soll meine Herausforderung für den heutigen Tag sein.

154 Stufen, deren reiner Anblick mich schon schwindelig macht, gilt es zu bezwingen. Ich will es wissen, und schon bald nachdem die ersten Stufen erklommen sind, habe ich das Gefühl "Das packst Du, Moni!"

Mit zwei, drei Fotopausen bereiten mir die vielen Stufen überhaupt keine Mühe (Michel, ich kann kommen!), und so stehe ich schneller als gedacht auf der Aussichtsplattform in 144m ü. Meeresspiegel. Hier werde ich von meinen Emotionen überrollt.

In den letzten Wochen gab es viele "Zum ersten Mal seit langem wieder"-Erlebnisse, doch dieses hier berührt mich mehr als alle anderen, und so laufen erst einmal ein paar Tränen über die Wangen, bevor ich die Aussicht überhaupt wahrnnehmen kann. Zugegeben, diese ist auch ohne Tränenschleier ein wenig verschwommen und diesig, aber dennoch toll. Weit geht der Blick über die Insel bis zur Ostsee. 360 Grad rundum. Bei klarer Sicht soll man sogar bis hinüber nach Usedom sehen können.

Angesichts des erwartet anstrengenden Rückwegs verweile ich aber nicht allzu lange in der Höhe und nehme bald darauf den Abstieg in Angriff. Das Hinuntersteigen bereitet mir erstaunlich wenig Mühe, liegt aber auch daran, dass die Treppe nicht sehr breit ist und ich mich links am Geländer, rechts an der Wand abstützen kann. Für manche sieht das aus, als ob ich Höhenangst hätte, und so ermutige ich ungewollt noch andere Touristinnen, denen ein "So schaffe ich das auch." entweicht. Wenn Ihr wüsstet ...

     

Der Rückweg wird beschwerlicher als erwartet, insbesondere das eingeschränkt bewegliche rechte Fußgelenk und die mangelnde Muskelkraft lassen mich aussehen wie eine 80-Jährige, aber ich tröste mich permanent mit den Worten, dass ich heute Abend wissen werde, was ich geleistet habe.

An der Haltestelle des Rasenden Rolands habe ich noch Zeit für eine kleine Verschnauf- und Stärkungspause, bevor der Dampfzug rauchend und fauchend zwischen den Bäumen auftaucht. Die halbstündige Fahrt führt zunächst durch die dichten Wälder der Granitz, dann vorbei am Seebad Sellin und endet im Seebad Göhren.

Eigentlich wollte ich zuerst auf das ca. 20m hohe "Nordperd" hochsteigen ("Perd" kommt aus dem Slawischen und bedeutet "Vorsprung", nicht "Pferd"), eine Fels- und Klippennase, auf der das Zentrum von Göhren liegt, und die den Strand des Seebads in einen Nord- und einen Südstrand teilt.

Aber als ich die vielen Treppenstufen sehe - just neben dem Schild "Seilbahn im Bau" - vergeht mir die Lust und ich schlendere stattdessen an den Nordstrand.

Hier lasse ich mich an der Waterkant entlang treiben und nehme das ein oder andere Motiv vor die Linse. Unter anderem ein wasserloses Wassertretbecken, ein mit einer Eisschicht bedeckter Weiher *brrrr* sowie den Buskam, den größten bisher gefundenen Findling in Norddeutschland. Dieser liegt ca. 350m vom Strand entfernt und ragt ca. 1,5m aus dem Wasser. Anhand seiner granithaften Zusammensetzung, die auf der dänischen Insel Bornholm vorkommt, geht man davon aus, dass er während der letzten Eiszeit mit einem Gletscherstrom nach Rügen transportiert wurde.

Nachdem ich noch Adele in ihrer ruhenden Pose abgelichtet habe, bin ich unschlüssig, ob ich mit dem Bus oder wieder mit dem Rasenden Roland zurück nach Binz fahren soll. Das Seebad Sellin mit seiner berühmten Seebrücke, die ich ursprünglich auf dem Rückweg noch vor die Linse nehmen wollte, habe ich gedanklich schon längst gestrichen. Der Weg vom Bahnhof zur Seebrücke ist mir heute einfach zu weit.

Die Entscheidung Bus oder Bahn wird mir am Bahnhof von Göhren abgenommen. Hier treffe ich eine sehbehinderte Frau wieder, mit der ich bereits am Kleinbahnhof Binz ins Gespräch gekommen war. Mit meiner giftgrünen Jacke bin ich ihr jetzt wohl wieder aufgefallen, sie kommt auf mich zu.

     

Sie besitzt eine Freifahrkarte für den Rasenden Roland, die sie mir schenkt, da sie mit dem Bus nach Binz zurückfahren möchte. Ganz lieb, ganz reizend die Dame! Wir unterhalten uns noch sehr nett bis ihr Bus kommt.

Schon bei meiner Ankunft am Bahnhof von Göhren war mir kleine Fischräucherei gleich nebenan in Auge und Nase gefallen. Jetzt gebe ich den Gelüsten nach - Versuchungen sollte man nachgeben, wer weiß, ob sie wiederkommen - und bestelle mir ein Matjesbrötchen, dazu einen heißen Sanddorn-Punsch (ohne Schuss). Beides genieße ich in einem windgeschützten Strandkorb, während hungrige, neugierige Spatzen zu meinen Füßen nach Bröseln suchend herumspringen.

So gestärkt und völlig zufrieden steige ich in die Bahn, nachdem ich noch ein paar Aufnahmen von der Vorbereitung der Dampflok für die Rückfahrt gemacht habe. Mein Vater, ein Eisenbahnliebhaber, wird sich freuen! In den alten Waggons ist es so muckelig warm, dass ich fast eindöse.

Das Aussteigen in Binz fällt mir schwer und ich weiß wieder, weshalb ich auch gerne mit dem Bus gefahren wäre: der Kleinbahnhof liegt nämlich ein gutes Stück von der Jugendherberge entfernt, und auf Laufen habe ich gerade mal so gar keine Lust.

Ich verbinde das Unangenehme mit dem Angenehmen und wähle die Strecke am Schmachter See entlang, an dessen Stelle sich am Ende der Eiszeit mal ein Gletscher befand. Kaum vorstellbar.

Wenn ich schon hier längs laufe, dann kann ich doch wenigstens noch nach ein paar Fotomotiven Ausschau halten!? Allzu viele finde ich nicht, Eiszeitliches schon gar nicht.

Vor allem die Natur ist hier noch sehr weit zurück. Erste Krokusse und vereinzelt Knospen an Hortensiensträuchern lassen sich blicken. Letzte bieten allerdings einen sehr reizvollen Kontrast zu den ebenfalls noch an den Sträuchern vorhandenen, mittlerweile getrockneten Blüten aus dem Vorjahr.

Da die Bronzeskulpturen des am See gelegenen Parks der Sinne schon zu sehr im Schatten liegen, schlurfe ich recht elanlos die letzten Meter zur Jugendherberge und beschließe, dass ich mich für heute nicht mehr fortbewege, sobald ich einmal auf meinem Bett sitze. Beine und Füße haben ihr Soll für heute mehr als erfüllt.

Immerhin füllt sich die Jugendherberge mit Leben - ich teile mein Zimmer nun mit zwei weiteren netten Frauen. Wir plaudern ein wenig à la "Wo kommst Du her, wo gehst Du hin?" Sehr angenehm, überhaupt nicht aufdringlich. Ich ziehe mich bald aufs Bett zurück und beginne schon einmal, die ersten Notizen für den Reisebericht festzuhalten.

Müde, mit schweren Knochen und schmerzenden Muskeln, aber mit einem zufrieden-breiten inneren Grinsen, mache ich früh das Licht aus.

Und morgen? Keine Ahnung. Einen konkreten Plan habe ich noch nicht. Ich werde mich treiben lassen.

Der Weg ist das Ziel.