Reif für die Insel: Rügen im März 2013

Montag, 04.03.2013: Viele Wege führen zum Königsstuhl


Am Morgen fühlen wir uns wie gerädert, niemand von uns hat sonderlich gut geschlafen. Während für Iris die Schlafcouch gruselig hart ist, ist mir meine Matratze genauso gruselig zu weich. Wir beschließen, die Nächte durchzutauschen.

Weniger tun können wir beim Warten auf das warme Duschwasser, das offensichtlich erst aus der Ostsee gepumpt und über'm Kohlefeuer erhitzt wird, bevor es auf unsere Etage ankommt!? Es dauert eine Ewigkeit, bis es in Wohlfühltemperatur aus dem Duschkopf kommt.

Um 8h30 sitzen wir am Frühstückstisch und beim Blick aus dem Fenster ist schlagartig alle Unzufriedenheit verschwunden: Meer, blauer Himmel mit Sonnenschein, soweit das Auge reicht. Eine unglaubliche innere Ruhe stellt sich ein, der Alltag ist plötzlich ganz weit weg.

Weit weg ist kommt einem auch der Busbahnhof vor, wenn man zu Fuß unterwegs ist. Unterwegs checken wir für Iris die örtlichen Trainings-
möglichkeiten
, die nicht vollständig auf ihren Trainingsplan verzichten möchte. Die so genannte Rügen-Therme mit ihrem 12,5m-Becken ist allerdings ebenso wenig eine Alternative wie das teure Fitnessstudio.
Sieht also erst einmal schlecht aus für Iris.

Aber sie weiß in diesem Moment ebenso wenig wie Kerstin und ich, dass in den kommenden zwei Tagen doch mehr Training als gedacht anstehen wird und wir noch viele Kilometer zu Fuß abspulen werden.

Zunächst steht aber erst einmal eine kleine Inselrundfahrt mit dem RPVN an. Wir möchten mit dem Linienbus bis Putgarten/Kap Arkona, von dort zum Fischerdorf Vitt (ausschließlich zu Fuß erreichbar) und dann per Bus zum berühmten Kreidefelsen Königstuhl, um von dort über den Hochuferwanderweg nach Sassnitz zurückzuwandern.

Ich hatte am Vorabend schon via iPhone versucht, die Busverbindungen zusammenzustellen. Wäre ja auch zu einfach, wenn man mit einem Bus alles abklappern könnte. Pikant: die Linienwechsel erfolgen quasi fliegend. An einer Haltestelle wird gewartet - oder aber wenn man Pech hat und der erste Bus wenige Minuten Verspätung hat, halt auch nicht. Das macht die Sache spannend.

Der erste Wechsel klappt tadellos - oder haben wir doch Verspätung, die der zweite Busfahrer mit seinem rasanten Tempo wieder herausholen möchte? Er jagt seinen Bus über eine kurvige Strecke in Richtung Kap Arkona, dass man/frau sich glatt nach dem Motorrad sehnt!

In Putgarten, dem letzten mit Kfz erreichbaren Ort vor dem Kap Arkona, steigen wir aus dem Bus, nicht ohne dass der Busfahrer noch auf die zweistündlichen Abfahrtszeiten mit der Bitte um Pünktlichkeit hinweist. Wir nicken dankend und machen uns auf den Weg.

Hier ist man eindeutig auf Touristen eingestellt. Ein großer Parkplatz befindet sich am Ortseingang Putgarten. Kap Arkona, das übrigens nicht, wie so oft gelesen, der nördlichste Punkt der Insel ist, selbst ist nur für Anlieger frei. Das gemeine Volk begibt sich per pedes auf den ca. 20 Minuten langen Fußweg zum Kap. Aber wen stört das schon bei schönstem Sonnenschein und strahlendblauem Himmel?

Schon von weitem sind die beiden Leuchttürme sichtbar - der 19,3m hohe, viereckige "Schinkelturm" (1826/27 nach Plänen von Karl Friedrich Schinkel erbaut und 1828 in Betrieb genommen) sowie sein 35m hoher Nachbar (1901/02 erbaut), der 1905 den alten Turm ablöste. Im Schinkelturm, nebem dem Travemünder Leuchtturm der zweitälteste Leuchtturm der dt. Ostseeküste, befindet sich heute MeckPomms höchstgelegenes Standesamt. Zahlreiche im Boden eingelassene gravierte Granitplatten, die mich eher an Grabplatten erinnern, zeugen von zahlreichen hier geschlossenen Lebensbündnissen.

     

Majestätisch stehen die beiden Türmen nebeneinander, strahlen eine Ruhe aus. Doch auch weniger friedvolle Gedanken werden wach - zwei Bunker, einer noch aus Wehrmachtszeiten, der zweite von der Nationalen Volksarmee bzw. Volksmarine erbaut - sowie eine Erinnerungstafel an das tragische Unglück vom 26.12.2011, als hier ein Stück Steilküste abbrach und ein 10-jähriges Mädchen unrettbar unter sich begrub, trüben kurz die Stimmung.

Wir wenden uns sonnigeren Gedanken zu, werfen einen kurzen Blick die so genannte Königstreppe herunter, die steil in 230 Stufen zum 42m tiefer gelegenen Strand führt, und schlagen dann den weniger anstrengenden Fußweg in Richtung Jaromarsburg, Peilturm und Fischerdorf Vitt ein.

Im Gegensatz zum 1927 erbauten und heute ein Künstleratelier behergender Peilturm sieht man von der direkt am Steilufer gelegenen Jaromarsburg, einer ehemaligen Kultstätte der Ranen zu Ehren der slawischen Kriegsgottheit Swantovit, nicht mehr viel. Selbst der einst 25m hohe Wall fügt sich so perfekt in die Landschaft ein, dass man ihn kaum wahrnimmt, wären da keine Hinweistafeln. Der Zugang zum ehemaligen Tempelbereich ist aufgrund von drohendem Küstenabbruch für die Öffentlichkeit leider gesperrt.

So widmen wir unsere Aufmerksamkeit kurz der Swantovit-Holzstatue mit ihren vier Köpfen und nehmen dann Kurs Süd auf das Fischerdorf Vitt Dabei schielen wir immer wieder auf die Uhr, um bloß rechtzeitig wieder am Bus zu sein. 2 x 1,5km Fußweg sowie ein bisschen Zeit zum Schauen und Fotografieren, vielleicht auch für ein Käffchen in Vitt, sollten schon drin sein.

Der Weg weist zwar noch Spuren von Eis und Schneematsch auf, ist aber ansonsten technisch anspruchslos und bietet wunderschöne Aussichten auf die beeindruckende Steilküste und die endlose Ostsee.

Das Fischerdorf Vitt scheint noch im Winterschlaf zu liegen. Eine Handvoll reetgedeckter Häuser schmiegt sich in die Bucht, die im Reiseführer gepriesene Räucherhütte am Strand ist - leider - geschlossen und auch sonst sind nur wenige Menschen, meist Touristen zu sehen.

     

Umso besser lässt sich die Ruhe, die dieser unter Denkmalschutz stehende Ort ausstrahlt, inhalieren. Dazu ein lecker Milchkaffee mit ebenso lecker hausgemachtem Apfel- bzw. Pflaumenkuchen in der Sonne - Herz, was begehrst Du mehr?

Höchstens ein wenig mehr Zeit. Die Uhr sagt uns irgendwann, dass wir besser wieder in Richtung Putgarten aufbrechen sollten. An der oberhalb des Fischerdorfes stehenden Kapelle machen wir nur einen kurzen Fotostop. Der Legende nach hielt der für Vitt zuständige Pastor Ende des 18. Jh. an dieser Stelle seine Predigten zunächst unter freiem Himmel, damit die Fischer während der Heringssaison gleichzeitig zuhören, aber auch das Meer im Blick halten konnten. Der Andrang war so groß, dass 1806 mit dem Bau der Kapelle begonnen wurde.

Heute dient die Kapelle der stillen Einkehr, aber da die Tür verschlossen ist, wandern wir weiter. Etwas Zeit bleibt uns dafür noch in Putgarten, um über den Rügen-Hof zu schlendern, ein ehemaliges, restauriertes Guts-
hofensemble
, das heute als Handwerkerhof genutzt wird und vielfältige Einblicke in die tradtionsreiche Handwerkskunst der Insel bietet.

Und plötzlich wird es doch noch eng.

Kerstin stellt plötzlich den Verlust ihres Haargummis fest und läuft, den Blick auf den Boden fixiert, in Richtung Rügen-Hof zurück. Iris und ich starren sprachlos hinter ihr her. Hallooo, gleich fährt der Bus! Der kommt auch prompt angefahren. Keine Kerstin weit und breit zu sehen. Während ich versuche, den leicht angesäuerten Busfahrer ("Ich habe es Euch vorhin extra noch gesagt") von der Abfahrt abzuhalten, kommt Kerstin seelenruhig ums Eck und verfällt dann, den Ernst der Lage erkennend, in einen Trabschritt. Puuuh, Glück gehabt.

Ab geht's in Richtung ... wohin eigentlich? Bis zum nächsten Umsteige-
punkt. Dumm nur, dass sich hier die Buspläne mit meinen kreuzen. Den von mir genannten Bus bzw. die Abfahrtszeit kennt unser zweiter Busfahrer gar nicht! Aber er ist liebenswert besorgt, fragt zunächst einen hinter ihm wartenden Busfahrer - der nicht helfen kann - und dann an einer der nächsten Haltestelle einen vor ihm wartenden Busfahrer. Und kommt dann winkend zu uns zurück. Alle frau umsteigen. Königsstuhl, wir kommen!

Naja, nicht ganz, denn der dritte Bus hat dann doch so viel Verspätung, dass wir den Anschlussbus für die letzten Kilometer bis zum Königstuhl verpassen. 7 Minuten Busfahrt umgerechnet in Fußweg?

     

Ist ganz schön viel! Wir werden noch eine Haltestelle mitgenommen, aber dann geht es per pedes ab durch den Wald. Immerhin auf befestigter Straße, und nach ca. 40 Minuten Fußmarsch stehen wir vor dem Eingang zum Königsstuhl-Gelände. Die Frage, ob wir uns hier länger aufhalten, ist schnell beantwortet: 7,50 Euro Eintritt? Äh, nö ... und wir treten sofort den Hochuferwanderweg in Richtung Sassnitz an.

Wird auch höchste Zeit, denn es ist immerhin schon 15h30, und knapp 8km Wanderweg querbeet, mit Höhen und Tiefen, durch Schnee, Eis und Matsch liegen vor uns. Ein Wettlauf gegen die Zeit, insbesondere wenn frau angesichts der beeindruckenden Steilküste immer wieder Fotostopps einlegen möchte.

Den ersten Stopp legen wir am Aussichtspunkt Victoria-Sicht ein. Wozu 7,50 Euro Eintritt zahlen, wenn man in 150m Luftlinie solch einen grandiosen Blick auf den berühmtesten Kreidefelsen von Rügen, den 118m hohen Königsstuhl, haben kann?

Während die Herkunft des Namens für den Aussichtspunkt eindeutig aus dem Besuch der preussischen Kronprinzessin Victoria in 1865 hervorgeht, ranken sich um den Namen des Königsstuhls mehrere Sagen.

Eine davon führt auf ein Ereignis im Jahre 1715 zurück, bei dem sich dort der nach einem Seegefecht mit den Dänen ermüdete schwedische König Karl XII. einen Stuhl bringen ließ. Eine andere erzählt, dass in alter Zeit derjenige zum König gewählt wurde, dem es als Erstem gelang, von der Seeseite aus den Kreidefelsen zu erklimmen und sich auf den oben aufgestellten Stuhl zu setzen.

Wie dem auch sei, der Anblick ist allemal majestätisch. Und der Austritt auf die kleine eiserne, über die Bruchkante hinausragende Aussichts-
kanzel
nur etwas für Schwindelfreie!

Aber bevor wir uns in der grandiosen, Fernweh erweckenden Aussicht verlieren, marschieren wir weiter. Zwischenzeitlich fühlen wir uns ein wenig von den Entfernungsangaben verar...t. Obwohl wir in Richtung Sassnitz laufen, steht auf dem nächsten Wegweiser manchmal eine größere KM-Angabe als auf dem Schild davor. Hilfe, Navi!

Nützt ja nix, weiter geht's der Nase nach, durch Brisnitzer und Kieler Bach, vorbei an den - nicht mehr wirklich vorhandenen - Wissower Klinken, deren beiden markante Hauptzinnen im Februar 2005 ins Meer abrutschten.

     

Kurz vor dem Ziel ist unsere Abenteuerlust gestillt, so dass wir die so genannte Piratenschlucht, ebenfalls Bestandteil des Hochuferwegs, der wiederum Teil des europäischen Fernwanderwegs E10 von Gibraltar nach Finnland ist, links liegen lassen und den direkten Weg zum oberen Ortseingang von Sassnitz wählen. Immerhin: wir erreichen unser Ziel noch vor Einbruch der Dunkelheit!

Hunger hat sich bei allen breit gemacht, so dass wir gar nicht erst bis zur Pension gehen, sondern vorher, dreckig und müde wie wir sind, in der kleinen Altstadt von Sassnitz in ein gemütlich ausschauendes Lokal mit vielversprechender Karte ("Schnitzel XXL satt") einkehren.

Eine gute Wahl! Sehr netter Laden, lecker Essen, entspannte Bedienungen, zufriedene Gesichter rundherum. Wir grinsen vor uns hin, lassen den Tag Revue passieren, schätzen die gelaufenen Kilometer (alles in allem 13-14) und freuen uns einfach nur, dass wir da sind wo wir sind.

Okay, die Freude wird später, beim Niedergleiten auf die wenig kommode Schlafgelegenheit ein wenig gedämpft, aber letztendlich siegt die Müdigkeit, und nach einer kurzen Planung für den Folgetag ist um 21h30 Endegelände.